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Ich fühle mich zu Hause

Man sagte mir, wenn ich eine Saison Äpfel pflücken überstehe, kann ich alles schaffen. Jeden Job. Und weil mein Visum mir nicht gerade viele Optionen ließ, bewarb ich mich kurzerhand entgegen jeglicher Empfehlung und Erfahrungsberichten von Freunden bei Waimea Nurseries, einer Baumschule. An meinem ersten Tag wurde ich mit Regenjacke, und Hose, Gummistiefeln, Rosenschere, Werkzeuggürtel und einer kleinen Plastiksprühflasche ausgestattet und zum ersten Job gebracht. Es dauerte eine ganze Weile, mein neues Team zu finden. Die Bäume waren fast 2 Meter hoch und ihr grünes Laub verbarg selbst den Trecker vor unseren Blicken. Mein neuer Supervisor Bruce hielt es nicht für nötig, an sein Handy zu gehen. Nach einer gefühlten halben Stunde, entdeckten wir die Warnlampe auf dem Trecker und fanden das Team. 
Der Anblick, der sich mir bot war absurd witzig und leicht verstörend: zwischen den urwaldartigen Apfelbäumen tauchten 8 Gestalten, jeweils vier auf jeder Seite des Treckers unter einem Stahlgestell, von dem Schläuche mit einer Sprühvorrichtung hingen, auf. Die Gestalten sahen aus, als würden sie aus einer seltsamen Paralleldimension stammen. Alle trugen grüne oder gelbe Regenkleidung, seltsame Hüte oder Mützen, Schals und blaue Plastikhandschuhe. Eine Frau mit einem selbstgestrickten pinken Blumenstirnband und roten Stulpen, war vermutlich mein Highlight. Neben der Regenkleidung hatten sie alle eins gemeinsam. Sie alle sahen resigniert aus, als hätten sie sich ihrem Schicksal ergeben und als wäre die Lebensfreude aus ihren Augen vor langer Zeit verschwunden. Na super, dachte ich, nahm Bruces Platz ein und begann mit dem Schlauchding Unkraut zu besprühen. Ich konnte förmlich spüren, wie die Lebensfreude mit jeder Minute auch aus meinem Körper gesogen wurde, während ich mich mit gesenktem Kopf unter dem Stahlgestell durch die nassen Baume zwängte.

Einige Monate später bin ich immer noch bei Waimea. Spaß habe ich an manchen Tagen. Frustriert bin ich an vielen. Aber Waimea hat einige entscheidene Vorteile und obwohl mein Visum inzwischen verlängert und die Arbeitsrechte geöffnet wurden, habe ich mich noch nicht um einen neuen Job gekümmert. Die Vorteile, von denen ich spreche, sind garantierte 40 Stunden Wochen von 7.30 Uhr - 4.00 Uhr, also garantiertes Einkommen um die $650 und die Abende für mich. Außerdem habe ich die Wochenenden frei. An manchen Samstagen können wir freiwillig arbeiten, müssen aber nicht.  

Vor etwa drei Wochen, rief mich mein Mitbewohner mich nach der Arbeit auf dem Weg zum Supermarkt an. Im Hintergrund konnte ich die Nachrichten im Fernsehen laufen hören. In Auckland ist ein Coronafall in der Bevölkerung aufgetreten. Es ist die Deltavariante. Neuseeland befindet sich ab Mitternacht wieder im Lockdown. Ohne Tom hätte ich mich doch sehr gewundert, warum der Parkplatz nach meinem Einkauf vor Autos und Menschen überquoll. Ich wette, das komplette Klopapier ist innerhalb einer Stunde ausverkauft. Menschen sind schon komische Kreaturen. Willkommen zurück Covid! 

Leider konnte ich den Lockdown nur für einen Tag genießen. Ich hatte mich schon darauf gefreut, eine Woche mit Tom zu chillen und außer Spaziergängen am Strand, daydrinking, kochen, backen und Netflix absolut nichts zu tun. Außerdem ist Dom ausgezogen und ich ziehe in sein altes Zimmer. Ich hätte Tom gerne mehr beim renovieren geholfen, aber mein Job ist essentiell. Sollten wir die Bäume, die jetzt gepflanzt werden müssen, nicht dieses Jahr pflanzen, wird es in drei Jahren zu einem Engpass für die Nahrungsmittelindustrie kommen. Am Donnerstag ging es also zurück in die Baumschule. Masken und selbstgebastelte Trennwände aus Frischhaltefolie, Panzertape und Pressspanplatten inklusive. Es ist schon ein bisschen witzig. Der Rest der Welt kämpft seit weit über einem Jahr mit der Pandemie, aber hier sind wir alle jedes mal wieder überrascht, wenn es ein Fall ins Land schafft und alle Maßnahmen bei der Arbeit wirken improvisiert, als hätte niemand mit einer solchen Situation gerechnet oder sich mit dem Thema in jeglicher Form beschäftigt. 

Inzwischen kann man den Frühling so richtig spüren. Die Tage werden länger, die Sonnenstrahlen wärmer und die Luft riecht nach Blüten, frischem Grün und Salzwasser. 
Ich bin so unendlich dankbar, in Nelson zu leben. 
Dankbar für einen Job, bei dem ich an der frischen Luft arbeiten kann und der mich körperlich fit hält. Letzte Woche sind wir pro Tag ca. 18km während unserer 8 Stunden Arbeit gelaufen. 

Ich bin dankbar für die unglaublichen Menschen, die ich treffen und kennenlernen darf. Menschen, von denen ich so viel lernen kann. Die mir immer wieder neue Blickwinkel zeigen, mir neue Dinge beibringen, mich zum lachen bringen und mir aus verzwickten Situationen helfen. 

Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht glücklich und dankbar bin. Selbst an den schlechtesten Tagen gibt es schöne Momente. Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit werde ich wieder von der Schönheit der Landschaft überwältigt. Ich sollte mich inzwischen daran gewöhnt haben, aber ich bin jedes mal aufs Neue verzaubert. Mindestens einmal stielt sich ein Lächeln auf mein Gesicht, weil die Berge besonders magisch aussehen, der Himmel eine ungewöhnlich schöne Farbe in der Morgendämmerung annimmt oder die Weinreben auf den Feldern glitzern in ihrem Morgenkleid aus Tau. Die Nächte sind oft so kalt, dass mein Auto am Morgen gefroren ist, aber gegen Mittag ist es so warm, dass ich im T-Shirt arbeiten kann. 

Und dann ist da noch das Meer. Oh, ich bin dankbar für das Meer. Ich sehe es zwar fast jeden einzelnen Tag, aber es wird nie alltäglich. Immerzu veränderlich. An manchen Tagen ist es friedlich, ruhig und glatt. Dann sieht es aus wie blaugrünes Glas. An anderen Tagen wirkt es, wie ein altes Foto, auf dem die Farben verblasst sind. Es kann rauh, stürmisch und wild sein. Die Gischt spritzt an solchen Tagen bis auf die Küstenstraße, auf der ich gerne joggen gehe. Minder schön ist es deshalb nicht. Die Wellen flüstern von Abenteuern, vom Ungewissen, vom sich lebendig fühlen. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie es sich anfühlt, nicht am Meer zu leben. Die Vorstellung kommt mir unvollständig vor, irgendwie falsch. Vielleicht werde ich mir für den Sommer einen Job in Reglan auf der Nordinsel suchen. Ich wollte schon immer in einem urigen Surferort leben und endlich das Wellenreiten lernen. Aber momentan bin ich ehrlich gesagt noch zu sehr in Nelson verliebt, um mich von dieser sonnigen Stadt zu trennen. 


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Kommentare: 3
  • #1

    Papa (Donnerstag, 09 September 2021 14:47)

    Frei nach dem Motto: an appel a day - keeps the doctor away. So hast du durch dein äpfelpflücken einen Großteil der Menschen gesund erhalten, oder ? Arbeit ist das Salz des Lebens, und wenn die Arbeit auch noch gelegentlich Spaß macht, so ist sie auch noch gut gewürzt. Es ist besonders wichtig in einem guten Team zu arbeiten und in einer netten Wohngemeinschaft zu wohnen. Eine gute Gemeinschaft gibt Halt und fängt auch mal Rückschläge auf oder federt sie ab. Schöne Erinnerungen sind wichtig und geben uns positive Impulse für die Zukunft. Also nutze deinen "Speicher" und fülle ihn damit!

  • #2

    Annette (Cousine deiner Mama *grins*) (Samstag, 11 September 2021 03:38)

    Liebe Linda, wir kennen uns ja eigentlich nicht. Trotzdem warte ich immer gespannt auf deine Reiseberichte und freue ich mich riesig, durch dich einen sozusagen Blick in die weite Welt zu bekommen. Vielen Dank und eine superschöne Zeit für dich....da fällt mir alten Frau *lol* das Lied ein: Das kann dir keiner nehmen!!!! Also: Alles Liebe für dich von hier nach da.....Annette

  • #3

    Katrin (Dienstag, 14 September 2021 00:13)

    Meine Liebe, endlich habe ich Deinen Reiseblock gefunden und freue mich sehr ihn zu lesen. Es klingt wunderschön und ich hoffe sehr, dass Du es noch eine Weile genießen kannst. Surfen im Sommer klingt allerdings auch nicht ganz schlecht... Ich Drück dich aus der Ferne!