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Lindi's Peak

Es ist Juli. Hochsommer. Der heißeste Monat des Jahres. Zumindest auf der Nordhalbkugel. Neuseeland liegt allerdings nicht auf der Nordhalbkugel. In Neuseeland ist tiefster Winter. Normalerweise, also wenn alles nach Plan gelaufen wäre, und die Welt nicht gerade Kopf stehend gegen eine Pandemie kämpfen würde, wäre ich jetzt im Northern Territory in Australien. 
Ich kann meinen Atem sehen und meine Handylampe beleuchtet spärlich den Trampelpfad zu meinem Puppenhaus. Der Boden glitzert. In Australien hat der Boden auch im Taschenlampenlicht geglitzert. Allerdings war die Erklärung dafür noch weniger angenehm als klitzekleine Eiskristalle aus gefrorenen Wassertropfen. Das blaue Glitzern in Australien ist - wie könnte es anders sein - das reflektierende Licht in hunderten Spinnenaugen. Und das ist leider kein Witz. 

Aber zurück zum Winter in Neuseeland. Denn ich bin nicht in Australien. Ich kann meinen Atem in der eisigen Nachtluft sehen und der Frost glitzert im Licht meiner Handylampe. Ich sitze im tiefsten Neuseeländischen Winter fest. Auf einer Farm mit dem passenden Namen Lindi's Peaks. Und ich habe seit Monaten nicht geschrieben. Eigentlich wollte ich nur für eine Woche hier bleiben. Die Schwester eines Freundes wollte mir ihren Arbeitsplatz zeigen. Sie ist Schäferin. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem wir über den Lindi's Pass gefahren sind und auf der Farm ankamen. Es war ein Montag. Am Dienstagabend fingen alle Handys an zu piepen und zu blinken. Eine Nachricht vor gelb-weiß gestreiften Hintergrund ploppte auf dem Display auf: Die neuseeländische Regierung hat für das gesamte Land Hausarrest verhängt. Ab Mittwoch. Das war Ende März. Ich saß fest. Konnte die Farm für 5 Wochen nicht verlassen. So hatte ich mir das definitiv nicht vorgestellt. In Neuseeland festsitzen - schön und gut, aber im Winter und in einer Hütte, die so dünne Wände hat, dass Blechdose ein passenderer Begriff wäre, mit zwei Schäfern, die sich auf den Tod nicht ausstehen können? Ein Albtraum! Die Hütte besteht aus einem kleinen Wohnzimmer mit Kamin, zwei kleinen Schlafzimmern und einer Küche mit angrenzendem Badezimmer. Bei schlechtem Wetter kann man sich praktisch nicht aus dem Weg gehen. Leider habe ich mich mit der Schwester des Freundes auch nach ein paar Tagen nicht mehr sonderlich gut verstanden. Sie hat mich regelmäßig an meine Grenzen getrieben. Wenn ich jetzt auf die Zeit zurück schaue, habe ich viel gelernt. Über mich und andere. Vor allem, wie ich nicht sein möchte. Ich möchte kein Mensch sein, der andere so behandelt, wie besagte Schwester von einem Freund. 

Inzwischen wohne ich nicht mehr in der Hütte bei den Schäfern. Ich habe jetzt mein eigenes Haus, obwohl man es eher Zimmer nennen könnte. Das Puppenhaus im Garten der Familie ist winzig, aber ultra gemütlich und mein eigenes kleines Reich. Das Bett hat Heizdecken. Und ich will ganz ehrlich sein: bis jetzt habe ich immer gedacht, dass Heizdecken was für alte Leute sind, die die bei Kaffeefahrten aufgeschwatzt bekommen. Ich muss mich entschuldigen! Es tut mir leid. Ich lag so falsch. Heizdecken sind die beste Erfindung seit Jahrzehnten! Ich weiß nicht, wie ich 26 Jahre ohne leben konnte. Bestimmt spielen sie sogar eine Rolle bei der Entscheidung, warum ich immer noch auf der Farm bin. Reisen im Winter erscheint mir einfach nicht sehr sinnvoll. 

Aber ich muss gestehen, obwohl ich hier im Winter festsitze und zu Hause gerade Hochsommer ist, möchte ich, vermutlich zum ersten mal in meinem Leben, nicht tauschen. Ich bin gerade dabei meinen Frieden mit dem Winter zu schließen. Hätte ich nie für möglich gehalten! Aber hier ist der Winter nicht nur nassgrau mit Bäumen, die nicht mehr als grauenhafte Gerippe sind, schattenhafte Schemen ihrer selbst. Hier sind viele Tage hell und freundlich mit blauem Himmel, Sonnenschein, schneebedeckten Bergketten und Gipfeln, einigen immergrünen Bäumen und warmen Temperaturen - damit meine ich Pulliwetter. Vielleicht, ganz vielleicht, kann Winter ja sogar schön sein. Und schön gebräunte Haut ist ja sowieso total überbewertet. Skifahren war ich noch nicht, aber der Winter ist ja noch nicht um. Mein gebrochener Fuß ist wieder geheilt und ich bin gewillt, es mit den Bergen aufzunehmen. Der gebrochene Fuß war übrigens nur eine der Katastrophen in der Zeit hier. Ganz am Anfang ist mein Handy ins Klo gefallen, als ich einen Lammbraten für die Belegschaft machen wollte, habe ich fast die Küche abgefackelt und ich hatte zwei Autopannen. Bei der ersten ist auf der Heimfahrt (ich habe einen der Schäfer aus der Kneipe abgeholt, weil er nicht mehr fahren konnte) der linke Vorderreifen einfach abgefallen und bei der zweiten ist das super alte Ersatzauto der Familie einfach liegengeblieben. Licht aus, alles aus. Trotzdem überwiegen die positiven Dinge Ich habe die vielen Hunde auf der Farm ins Herz geschlossen und füttere außerdem zweimal täglich zwei verwaiste Lämmchen und ein Kälbchen mit Milch. Nachts kann man unendlich viele Sterne sehen und ich habe inzwischen ein paar Freunde gefunden. Das Leben hier fühlt sich komplett normal an. Niemand trägt Masken oder sich in Listen ein. Bars, Restaurants, Geschäfte, Tourveranstalter, alles hat geöffnet. Innlandsflüge finden ganz normal statt. Nur die Grenzen zur Außenwelt sind und bleiben zu. Ein komisches Gefühl. Vor allem, weil mein Visum am 25. September ausläuft und ich mir fast nichts Schlimmeres vorstellen kann, als in den dritten Winter in Folge nach Hause zu fliegen. 

Aber noch ist nicht der 25. September und mit diesem Wissen verdränge ich alle Gedanken über die nähere oder ferne Zukunft - darin bin ich gut geworden - und rolle mich auf meiner Heizdecke in meinem Puppenhaus zusammen. Nicht weit entfernt heulen die Hunde in ihren Zwingern. Aus meinem Fenster kann ich den Mond sehen. Eine Sternschnuppe huscht über den Nachthimmel. 

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