Fast drei Monate ist es nun her, dass ich meinen 24. Geburtstag und gleichzeitig meine Abschiedsparty gefeiert habe. Es kommt mir schon so viel länger her vor. Und dabei war ich die letzten drei Monate nur an einem Ort. Im Northern Territory von Australien oder genauer, im Arnhem Land.
Wie gerne würde ich ausführlichst von meinen Erlebnissen berichten, aber dafür reicht die Zeit einfach nicht aus. Und ich könnte es vermutlich auch gar nicht gut genug beschreiben. Die wenigsten meiner Freunde können sich mich vorstellen, wie ich nach drei Tagen ohne Dusche und dementsprechend dreckig, mit aufgeschürften und zerstochenen Beinen, barfuß, mit sich langsam bildenden Dreadlocks (nicht nur ungekämmt, sondern so richtig zerzaust und staubig, mit Blättern und Stöcken drin) um ein Lagerfeuer im Australischen Busch sitze. Neben mir sitzen zwei Typen aus Alaska. Wir essen ein am selben Tag geschossenes Wallaby aus einer rostigen Campingpfanne - mit den Händen, weil wir das Geschirr nicht im Wasserloch nebenan waschen wollen. Denn nur wenige Meter von unserem provisorischen Camp lebt ein riesiges Salzwasserkrokodil in besagtem Wasserloch und wartet nur darauf, dass wir unvorsichtig werden. Okay, vielleicht hatte es auch gar keine mörderischen Absichten, aber es war definitiv da. Unter der stillen Wasseroberfläche. Abwartend. Lauernd. Das brackige, nach Entenscheiße und gammeligen Pflanzen schmeckende Wasser haben wir übrigens getrunken. Von uns könnten sich die langweiligen C-Promis im Dschungelcamp noch was abgucken. Einen Notfallplan gab es auch nicht, falls was schief gegangen wäre. Aber wir hatten einfach nur eine verdammt schöne Zeit.
Gerne würde ich euch davon erzählen, wie leicht es ist, sich im Busch zu verlaufen, aber das ist schwer nachzuvollziehen, wenn man sich nie im Busch verlaufen hat. Mein Lieblingsspanier und Campbuddy Fernando war zum Beispiel absolut davon überzeugt, dass er seine vor fünf Wochen verlorene Sonnenbrille wiederfinden würde, weil er sich noch genau an den Weg erinnerte, den er mit Wesley gelaufen war. Also machten wir uns auf - Fernando mit dem GPS (um unser Allradfahrzeug wiederzufinden) und seinem clever durchdachten Plan im Kopf - ich mit der .308 über der Schulter (für Notfälle).
Ein solcher Notfall könnte beispielsweise ein ca. 800 kg schwerer Wasserbüffel mit zwei riesigen Hörnern sein, der sich spontan überlegen könnte, uns platt zu machen. Ich werde mich bei den nächsten Spaziergängen ohne Gewehr sicher ziemlich nackt fühlen, so sehr habe ich mich an das Gewicht auf meiner Schulter und in meinen Händen gewöhnt. Auf unserer Sonnenbrillenmission haben wir allerdings nur einen schlafenden Dingo geweckt. Und auch wenn es heißt, schlafende Hunde soll man nicht wecken, war das wohl kein schlechtes Omen, denn wir sind keinem rasenden Büffel begegnet und das Gewehr blieb unbenutzt. Die Sonnenbrille haben wir allerdings - Überraschung - auch nicht gefunden. Fernando war am Boden zerstört, als ihn die Erkenntnis traf. Er war sich sicher, seinen Schatz hinter einem Termitenhügel verloren zu haben. Zu schade, dass es davon nicht nur zehn Stück im Arnhem Land gibt. Er hatte keinen Plan mehr, welchen Büffeltracks er mit Wesley gefolgt war. Seine Sonnenbrille war für immer verloren, er würde sie nie wieder sehen. Ohne das kleine GPS Gerät hätten wir unseren Buggy vielleicht nie wieder gesehen. Mein Bauchgefühl hätte mich definitiv in die entgegengesetzte Richtung des GPS Pfeils geleitet. Es ist so leicht die Orientierung zu verlieren.
In den zwei Wochen, die Fernando und ich allein im Camp verbracht haben, habe ich so richtig gemerkt, wie gut wir klar kommen. Anders als bei Wesley, zu dem ich sofort eine Verbindung aufgebaut habe, hat es für mich länger gedauert den Humor des Spaniers zu verstehen und ihn ins Herz zu schließen. Er schläft unglaublich gerne und hält sich selbst für unfassbar witzig. Aber ich muss zu seiner Verteidigung gestehen, dass er tatsächlich verdammt witzig sein kann. Es gab Tage an denen wir uns gegenseitig in Ruhe gelassen und kaum geredet haben. Zum Beispiel als ich von viel zu viel Gin am vorabendlichen Lagerfeuer verkatert auf der Terrasse zum Fluss gelegen habe und nur gelegentlich zur Nahrungsaufnahme in die Küche gekrochen bin. An anderen Tagen haben wir aus Druckpapier Spielkarten gebastelt, gespielt, Holz gesammelt und gehackt und zusammen gekocht. Wir haben Termitenhügel aus dem Buggy umgekickt und auf einer offenen Fläche, die kurz zuvor von einem Waldbrand zerstört wurde, aus vollem Hals geschrien. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte mal zum Spaß gebrüllt habe. Ich wusste nicht, wie befreiend das ist. Vielleicht verliere ich aber auch nur ganz langsam den Verstand hier draußen. Wie nennt man das noch mal in Australien? Bush-happy.
Wesley war von Anfang an offener. Er ist mit mir bis weit nach Mitternacht aufgeblieben. Wenn alle anderen schon lange geschlafen haben, haben wir am Lagerfeuer gesessen, Stock um Stock nachgelegt, wenn es zu kalt wurde und in die tanzenden Flammen gestarrt. Wir haben die Sterne über uns bewundert und über alles Mögliche und Unmögliche geredet. Der Nachthimmel über dem Camp ist unbeschreiblich. Nur wenn der Mond voll ist, vertreibt er die anderen Sterne und wirft lange Schatten auf den Boden. Bei jeder Sternschnuppe habe ich aufs Neue vergessen, mir etwas zu wünschen. Aber was sollte ich mir schon wünschen? Hier draußen ist alles, was mein Herz begehren könnte: endlose, fast unberührte Natur, Wildheit, Freiheit, allerbeste Gesellschaft und so viel Neues zu lernen. Simon und Wesley haben versucht, mir Mechaniker-Skills beizubringen und ich kann jetzt tatsächlich Reifen wechseln. Auch beim Assistieren stelle ich mich nicht mehr allzu doof an. Simon hat sich halb tot gelacht, als ich mit verschmierten Fingern Motoröl in Form einer Blume auf mein dreckiges Bein gemalt habe. Den Spitznamen "Grease Flower" werde ich wohl nie wieder los.
Ich würde euch so gerne erzählen, wie lebendig man sich hier draußen fühlt. Wie viel Energie in der Luft und im Wasser und in der Erde pulsiert und dass ich früh morgens aufstehe, um die morgendliche Stille zu genießen. Aber ganz ehrlich Leute, wer würde mir schon glauben, wenn ich sage, dass der Morgen hier meine Lieblingstageszeit ist? Richtig! Niemand. Ich kann selbst nicht fassen, wie wach ich hier morgens bin. Zuhause muss ich mir selbst am Wochenende einen Wecker stellen, wenn ich vor elf oder zwölf Uhr aufstehen will und ich könnte immer weiter schlafen.
Um fair zu sein muss ich allerdings zugeben, dass die Nacht meine Lieblingszeit war, als Wesley noch im Camp war und jeden Abend mit mir am Lagerfeuer gesessen hat.
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